Storytelling schützt Leben – Warum wir mehr Fiktion in der Krisenvorsorge brauchen

Gastbeitrag Markus Mattzick

Im Dezember 2004 beobachtete ein 14-jähriger Teenager das sich zurückziehende Meer. Davon hatte er in Frank Schätzings Thriller „Der Schwarm“ gelesen und ihm war klar, dass es ein klassisches Tsunami-Vorzeichen war. Er warnte seine Familie, die daraufhin rechtzeitig ins Landesinnere fliehen konnte.

Aktive aus der Krisenvorsorge, die bereits jahrelang dafür kämpfen, ein Bewusstsein für Katastrophenschutz zu schaffen, rennen – theoretisch – offene Türen ein. Unternehmen, Behörden und Menschen ist bewusst, dass es zu Hochwasser, Blackouts und anderen Katastrophenszenarien kommen kann. Meist sind die Gefahren aber abstrakt und konkretes Handeln bleibt aus. Leider setzt auch wenige Wochen nach einem Ereignis die Katastrophen-Demenz ein – es war ja nochmal gut gegangen – und in der Informationsflut gehen gute Vorsätze unter.

Fiktion kann helfen, reale Gefahren emotional zu verankern – und sogar Verhalten verändern.

Wenn Storytelling auf Selbstschutz trifft

In meiner Romanreihe “Ohne Strom” erlebt man aus der Sicht verschiedener Figuren, wie diese mit einem plötzlichen Zusammenbruch aller elektronischen Systeme zurechtkommen müssen. Begonnen hatte das für mich als hypothetisches Szenario, es entwickelte sich zu einer nüchternen Auseinandersetzung mit Fragen der Trinkwasserversorgung, Kommunikation, medizinischer Hilfe und sozialem Zusammenhalt.

Schon von meinen Testlesenden bekam ich Rückmeldungen wie:

“Nach der Lektüre habe ich mir erstmal ein paar Kisten Wasser in den Keller gestellt.”

“Dein Buch hat mich motiviert, einen kleinen Notvorrat anzulegen.”

Das hatte ich nicht geplant, denn eigentlich wollte ich nur unterhalten. Es zeigt aber, welches Potenzial in Fiktion steckt: Abstrakte Szenarien werden lebendig und greifbar. Lesende können sich in den Figuren wiedererkennen, die ohne Licht, ohne Polizei oder ohne Medikamente auskommen müssen. Es entstehen Empathie und Einsicht.

Fiktion wirkt, weil sie uns spüren lässt

Fiktion – auch wenn sie noch so gut recherchiert ist – ist kein Ersatz für Fakten. Aber sie schafft ein emotionales Einstiegstor. Neuropsychologisch ist gut belegt: Wer Geschichten folgt, aktiviert im Gehirn dieselben Netzwerke wie bei realem Handeln. Deshalb kann ein fiktiver Stromausfall oder eine virtuelle Pandemie nachhaltiger wirken als jede Broschüre.

Beispiele gibt es viele:

  • „The Day After“ (1983) – Millionen Zuschauer sahen, wie ein Atomkrieg das Leben in Kansas City zerstört. Der Film trug nachweislich zur gesellschaftlichen Debatte über nukleare Abrüstung bei.
  • „Chernobyl“ (HBO) – Die Serie löste nicht nur einen Boom an Dokus aus, sondern beeinflusste auch das öffentliche Verständnis von Risikomanagement und systemischem Versagen.
  • „This War of Mine“ (Computerspiel) – Spieler*innen erleben einen Bürgerkrieg aus Sicht von Zivilisten. Viele berichten, dass sie seither anders über humanitäre Krisen denken.
  • „Contagion“ (Film, 2011) – Kaum ein anderer Film wurde in der Corona-Pandemie so häufig zitiert. Wer ihn gesehen hatte, war besser vorbereitet – zumindest mental.
  • „Blackout“ von Marc Elsberg (2012) Der Thriller über einen europaweiten Stromausfall hat in vielen Lesenden das Interesse an Notbevorratung und Resilienz geweckt. Das Buch wurde auch von Zivilschutzorganisationen empfohlen, u.a. vom Österreichischen Bundesheer. → Nach Veröffentlichung stiegen Google-Suchanfragen zu „Stromausfall Vorsorge“ messbar an.
  • „Notruf Hafenkante“, „Die Rettungsflieger“, „112 – Sie retten dein Leben“ (deutsche TV-Formate) Auch wenn dramaturgisch überhöht, vermitteln diese Serien grundlegendes Verhalten bei Notfällen:
  • Wie wählt man den Notruf?
  • Was sollte man bei Erste Hilfe tun/nicht tun?
  • Warum ist das Absichern einer Unfallstelle entscheidend?
  • Kindergeschichten wie „Feuerwehrmann Sam“ Kinder lernen früh, wie ein Rauchmelder klingt, was Fluchtwege sind oder dass man bei Feuer nicht verstecken, sondern flüchten soll.

Warum auch Behörden und Organisationen Fiktion ernst nehmen sollten

Könnte man diese Wirkung gezielter nutzen? Ich meine: Ja. Krisenvorsorge braucht nicht nur technische Expertise, sondern auch kommunikative Wege, die Menschen emotional erreichen. Ein guter Roman, eine Mini-Serie oder sogar eine Social-Media-Storyline kann Neugier wecken, Denkanstöße geben – oder Angst in Handlung verwandeln.

  • Ich nutze meine Lesungen zu “Ohne Strom” um den Ratgeber für Notfallvorsorge des BBK an mein Publikum zu verteilen
  • Mit “Max und Flocke” nutzt das BBK Storytelling um Kinder spielerisch für Krisenvorsorge zu sensibilisieren – ohne Angst zu erzeugen.
  • In seinem Ratgeber “Stromaufall – Was tun, wenn nichts mehr geht?” stellt Reiner Dittrich dem Sachteil ein Kapitel Blackout-Fiktion voran, das Lesende emotional auf das Thema einstimmt
  • Serious Games, wie “Neustart – Die Blackout Simulation”, erreichen Entscheidungsträger und andere Spielende auf einer emotionalen Ebene

Natürlich soll niemand Panik erzeugen. Aber wer Menschen erreichen will, muss ihnen Bilder im Kopf hinterlassen. Fiktion kann dabei helfen – und sollte in der Krisenkommunikation nicht unterschätzt werden. Auch kleine, alltägliche Vorfälle lassen sich durch Fiktion greifbarer machen. Ob in Kinderserien, Arztformaten oder Notfall-Dramen: Fiktion vermittelt intuitive Handlungsweisen, die in der Realität Leben retten können – sei es das richtige Verhalten bei einem Hausbrand, das Erkennen eines Schlaganfalls oder das Absichern einer Unfallstelle. Wenn solche Szenen emotional berühren, bleiben sie haften – und können im Ernstfall spontan abgerufen werden. Gerade deshalb sollte Fiktion auch im Bevölkerungsschutz und in der Aufklärung über Alltagsrisiken einen festen Platz haben.


Markus Mattzick ist Autor der Romanreihe Ohne Strom, in der ein Blackout und seine gesellschaftlichen Folgen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. Er lebt in Mittelhessen und verarbeitet in seinen Büchern auch Rückmeldungen und Recherchen aus Bevölkerungsschutz und Krisenkommunikation. Außerdem ist er Mitglied der Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV) und der Climate Fiction Writers League Europe.

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