Gesamtverteidigung neu denken – Ein Weckruf für Staat und Gesellschaft

„Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ – dieses Motto zieht sich wie ein roter Faden durch das aktuelle Verständnis von Gesamtverteidigung. Doch was bedeutet das für uns als Gesellschaft – jenseits von Bundeswehr, Ministerien und NATO-Strategien?

Die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, zunehmende hybride Bedrohungen und eine spürbare Verschiebung des globalen Gleichgewichts fordern ein neues Denken: nicht nur in militärischen, sondern vor allem auch in zivilgesellschaftlichen und kommunalen Strukturen.

Gesamtverteidigung: Mehr als ein militärisches Konzept

Gesamtverteidigung ist kein Relikt des Kalten Krieges, sondern ein hochaktueller strategischer Ansatz, der den Schutz von Staat, Bevölkerung und Infrastruktur gleichermaßen umfasst. Sie beruht auf zwei Säulen: militärischer Verteidigung und ziviler Resilienz – beide funktional untrennbar und nur gemeinsam wirksam.

Die zivile Verteidigung betrifft viele Bereiche, die bislang oft als „normaler Alltag“ wahrgenommen werden: kritische Infrastrukturen, Behördenstrukturen, Katastrophenschutz, Versorgungssysteme, Medienlandschaft – und nicht zuletzt die Bevölkerung selbst.

Eine gesamtstaatliche Aufgabe – mit gesamtgesellschaftlicher Verantwortung

Die Ergebnisse der Studienphase des LGAN 2023 zeigen deutlich: Es mangelt weniger an Konzepten als an eingeführten Strukturen, interoperablen IT-Systemen, einem gemeinsamen Lagebild und gelebter zivil-militärischer Zusammenarbeit. Besonders relevant für die Praxis:

  • Einführung eines Stabes für Nationale Resilienz, Sicherheit und Verteidigung (SNRSV) im Bundeskanzleramt zur Koordination im Frieden, in der Krise und im Verteidigungsfall.
  • Aufbau eines gesamtstaatlichen Lagebilds („Lagebild Deutschland“) unter Nutzung des Projekts Territorial Hub zur digitalen Fusion ziviler und militärischer Informationen.
  • Etablierung eines Bundeszentrums Übung & Ausbildung Gesamtverteidigung (BZÜA) zur Koordination ressortübergreifender Übungen und strategischer Ausbildung.
  • Entwicklung einer Kommunikationsstrategie Gesamtverteidigung zur Stärkung der Resilienz gegen Desinformation und hybriden Einfluss.

Kommunale Bedeutung: Vom Mosaikstein zur Systemrelevanz

Gerade die föderale Struktur Deutschlands stellt eine besondere Herausforderung dar. Der Ansatz des „Übungsmosaik Deutschland“ setzt hier an: Jede Kommune, jeder Landkreis wird als eigener Baustein betrachtet – mit eigenen Bedarfen, Kapazitäten und Übungsreifegraden. Die Zielrichtung ist klar: Komplexität beherrschbar machen durch dezentrale Resilienz, gekoppelt mit überregionaler Koordination. Das fordert mehr als nur taktisches Handeln – es verlangt strategisches Denken auf lokaler Ebene.

Krisenkommunikation als Teil der Verteidigungsfähigkeit

Ein zentrales Element der zivilen Verteidigung ist Kommunikation. Strategische Krisenkommunikation, abgestimmte Narrative, Medienkompetenz und der Aufbau eines belastbaren Kommunikationsnetzwerks werden als Schlüsselfaktoren genannt. Der Leitsatz „One message – many voices“ wird dabei nicht als Einschränkung, sondern als notwendige Grundlage eines kohärenten gesellschaftlichen Handelns verstanden.

In Krisen ist es wichtig, dass alle Menschen wissen, was los ist und wie sie sich verhalten sollen. Offene Kommunikation gilt hierbei als das stärkste Werkzeug. „Resilienz beginnt im Kopf“, sagt Oberstleutnant Antje M. „Nur, wer Desinformation erkennt, kann die richtigen Schlüsse ziehen.“  Die Bevölkerung muss besser zum Thema Fake News aufgeklärt werden. Die Arbeitsgruppe empfiehlt, robuste und krisenfeste Informationskanäle aufzubauen, die auch bei Stromausfall funktionieren – zum Beispiel über Warn-Apps, Radio oder Lautsprecherwagen. 

Das erfordert eine einheitliche und ressortübergreifende Kommunikationsstrategie – ein Dokument, das die gesamtstaatliche Kommunikation zusammenfasst und grundlegende Narrative enthält sowie kurz- und langfristige Kommunikationsziele festlegt. 

Verteidigungsfähigkeit beginnt in der Mitte der Gesellschaft

Gesamtverteidigung beginnt vor der Krise

Was bedeutet das für den Bevölkerungsschutz? Für Feuerwehr, Katastrophenschutz, Verwaltungen, NGOs, Unternehmen? Ganz klar: Gesamtverteidigung ist nicht erst Thema, wenn der Bündnisfall festgestellt wird. Sie beginnt im Alltag – mit robuster Infrastruktur, mit Planübungen, mit verlässlicher Risiko- und Krisenkommunikation und mit dem Willen zur Zusammenarbeit über Zuständigkeitsgrenzen hinweg.

Die LGAN-Studie 2023 liefert keine Patentrezepte, aber eine fundierte und praxisorientierte Diskussionsgrundlage. Sie ist ein Weckruf – nicht nur an die Bundeswehr, sondern an uns alle. Denn wie heißt es so treffend:

Die Gesamtverteidigung Deutschlands wird wirksam gestärkt, wenn nicht nur einzelne Säulen ertüchtigt werden, sondern die gesamte Statik sicher kalkuliert wird.

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